Liebe Hörerinnen und Hörer!
Vor kurzem las ich die Geschichte von Leo Tolstoi mit dem Titel „Das Gottschauen“. Ein König hatte in seinem reichen Erdenleben alles, was nur ein Sterblicher erleben und mit den Sinnen erfassen kann, vernommen. Dennoch war er nicht glücklich am Ende seiner Tage, sondern wurde von Schwermut überfallen., denn er hatte Gott noch nicht gesehen. Das wollte er unbedingt vor seinem Tod erleben, ja, er wollte dieses Erlebnis sogar erzwingen, als wenn es ihm zustünde.
Und der König befahl allen Machthabern, Weisen und Priestern, ihm Gott nahezubringen. Schwerste Strafen wurden ihnen angedroht, wenn sie das nicht vermöchten. Der König stellte eine Frist von drei Tagen.
Trauer bemächtigte sich aller Bewohner des königlichen Palastes und alle erwarteten ihr baldiges Ende. Genau nach Ablaufen der dreitägigen Frist, um die Mittagsstunde, ließ der König sie vor sich rufen. Der Mund der Machthaber, der Weisen und Priester blieb jedoch stumm und der König war in seinem Zorn schon bereit, das Todesurteil zu fällen.
Da kam ein Hirte vom Feld, der des Königs Befehl vernommen hatte und sprach: „ Gestatte mir, o König, dass ich deinen Wunsch erfülle.“ „Gut!“, entgegnete der König, „ aber bedenke, dass es um deinen Kopf geht.“
Der Hirte führte den König auf einen freien Platz und wies auf die Sonne. „Schau hin“, sprach er. Der König erhob sein Haupt und wollte in die Sonne blicken, aber der Glanz blendete seine Augen, und er senkte den Kopf und schloss die Augen. „ Willst du, dass ich mein Augenlicht verliere?“, sprach er zu dem Hirten. „ Aber König, das ist doch nur ein Ding der Schöpfung, ein kleiner Abglanz der Größe Gottes, ein kleines Fünkchen seines strahlenden Feuers. Wie willst du mit deinen schwachen tränenden Augen Gott schauen? Suche ihn mit anderen Augen.“
Der Einfall gefiel dem König und er sprach zu dem Hirten:“ Ich erkenne deinen Geist und sehe die Größe deiner Seele. Beantworte mir nun meine Frage: „ Was war vor Gott?“ Nach einigem Nachsinnen meinte der Hirte: „Zürne mir nicht wegen meiner Bitte, aber beginne zu zählen!“ Der König begann: „ Eins, zwei…“. „Nein“, unterbrach ihn der Hirte, „nicht so; beginne mit dem, was vor eins kommt.“. „ Wie kann ich das? Vor eins gibt es doch nichts.“ „Sehr weise gesprochen, o Herr. Auch vor Gott gibt es nichts.“ Diese Antwort gefiel dem König noch weit besser als die vorhergehende.
„ Ich werde dich reich beschenken; vorher aber beantworte mir noch eine dritte Frage: „ Was macht Gott?“ Der Hirte bemerkte, dass das Herz des Königs weich geworden war. „Gut“, antwortete er, „ auch diese Frage kann ich beantworten. Nur um eines bitte ich dich: lass uns für ein Weilchen die Kleider wechseln.“ Und der König legte die Zeichen seiner Königswürde ab, kleidete damit den Hirten, und sich selbst zog er den unscheinbaren Rock an und hängte sich die Hirtentasche um. Der Hirte setzte sich nun auf den Thron, ergriff das Zepter und wies damit auf den an den Thronstufen mit seiner Hirtentasche stehenden König: „ Siehst du, das macht Gott, die einen erhebt er auf den Thron, und die anderen heißt er heruntersteigen.“
Daraufhin zog der Hirte wieder seine eigene Kleidung an. Der König aber stand ganz versonnen da. Das letzte Wort dieses schlichten Hirten brannte in seiner Seele. Und plötzlich erkannte er sich und unter dem sichtbaren Zeichen der Freude sprach er: „ Jetzt schaue ich Gott!“
Liebe Hörerinnen und Hörer, auf der Suche nach Gott wünsche ich Ihnen und mir das einfätige Herz des schlichten Hirten.
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