Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
Wer ein Dienst-Geheimnis ausplaudert, bekommt in der Regel Schwierigkeiten und wird zur Rechenschaft gezogen.
Der bengalische Schriftsteller Rabindranath Tagore hat jedoch ein Dienst-Geheimnis besonderer Art erfahren und es uns in einem seiner Gedichte verraten: „Ich schlief und träumte, dass das Leben nur Freude sei. Ich erwachte und sah, dass das Leben nur Dienst sei. Ich diente und sah, dass der Dienst Freude ist.“
Tagore hat eine überraschende Entdeckung gemacht: Dienst und Lebensfreude sind keine Gegensätze. Engagement für andere und Selbstverwirklichung schließen sich nicht aus.
Ganz im Gegenteil: Wer glaubt, Freude, Genuss oder erfülltes Leben wären möglich ohne Rücksichtnahme, ohne Hilfsbereitschaft und Verzicht, der verschließt die Augen vor der Wirklichkeit. Und wer den Eindruck hat, das Leben bestünde nur aus einem freudlosen Schuften für andere, aus Buckeln müssen und Gedemütigt werden, der hat eine entscheidende Erfahrung noch nicht gemacht: Ich werde selbst glücklich und zufrieden, wenn ich durch Wort und Tat anderen eine Freude machen kann.
Wer dieses Dienst-Geheimnis kennt, wird sich immer wieder fragen: Womit kann ich dienen? Was ist meine persönliche Lebensaufgabe? Wo liegen meine Talente und Begabungen? Wie kann ich zum Gelingen des Lebens in meiner Umgebung beitragen? Zuhören und mitfühlen - oder reden und mitreißen; einzelne in ihrer Trauer begleiten und ihren Schmerz mit aushalten - oder Gemeinschaft stiften und Gastfreundschaft pflegen; singen und musizieren - oder organisieren und zupacken: So unterschiedlich könnten die Dienstwege aussehen, auf denen wir andere und damit auch uns selbst bereichern.
„Ich diente und sah, dass der Dienst Freude ist.“ Wer zustimmen kann, sollte dieses Dienst-Geheimnis unbedingt weitererzählen...
(Ideen aus Wolfgang Raible, 100 Kurzansprachen, Herder, 2009)