Zum Thema: ERNA
Heute mit einem Morgengruß von Gisela Hermann.
Die Geschichte von Erna, die Michael Becker schrieb, sollte uns nachdenklich stimmen.
Erna ist eine ganz Stille. Meistens sitzt sie am Rand im Frauenkreis. Oder sie hört anderen zu. Selber redet sie nicht gerne. Wenn doch, dann nur ,wenn sie gefragt wird. Mit dem reden ist das so eine Sache, weiß Erna. Es wird so viel geredet.. .Im Laden, auf der Straße, im Frauenkreis. Nicht einfach geredet, sondern getratscht. Jeder kriegt sein Fett weg, nichts und niemand ist mehr heilig. Jedes Gerücht wird weitergegeben, ob es stimmt oder nicht. Jede Krankheit wird ausgebreitet. Das will Erna nicht mitmachen, ist lieber still. Weil sie glaubt: Es wird so viel geredet, weil keiner mehr zuhört. Ohne mich, hat Erna dann gesagt. Ich muss ja nicht reden. Wenn kaum jemand zuhört, warum soll ich dann reden. Also hört Erna lieber zu. Auch zu den Gerüchten. Die will sie schnell vergessen, gar nicht erst weitergeben. Worte sind auch gefährlich, sagt Erna. Sie können der Seele wehtun. Da halt ich lieber meinen Mund, denkt sie. Erna hört Sachen, die sie lieber nicht hören würde. Und sagt: Das darfst du nicht denken und nicht sagen; du weißt es doch gar nicht genau. Und doch ist Erna unsicher. Aber sie merkt, dass andere gern zu ihr kommen und mit ihr reden. Wohl weil sie zuhören kann, nicht dauernd von sich redet. Um Erna herum ist es wie auf einer grünen Wiese. Da ist man gerne, hat viel Platz, wird nicht mit Worten eingeschnürt oder zugeschüttet. Das Zuhören ist ein Geschenk für Erna. Weil ich viel höre und so viele Geschichten kenne, sagt Erna, hab ich mein eigenes Leben mehr lieb.
Wer zuhört, erkennt sich selber.