zum Thema: Fremde beherbergen
Liebe Hörerinnen und Hörer,
heute Morgen eine Geschichte, die uns einlädt, darüber nachzudenken, wie wir mit Fremden umgehen: ?Kein Raum in der Herbergeg von Lina Donohue.
Walter war gerade neun Jahre alt geworden und ging in die zweite Grundschulklasse, obwohl er eigentlich in der vierten hätte sein sollen. Eigentlich wäre Walter im Krippenspiel gern ein Schäfer mit einer Flöte gewesen, aber Fräulein Schmitt hatte ihm eine wichtige Rolle zugedacht.
So versammelte sich wie gewohnt die große Zuhörerschaft zu der alljährlichen Aufführung der Weihnachtsgeschichte mit Hirtenstäben und Krippen, Bärten, Kronen, Heiligenscheinen und einer ganzen Bühne voll heller Kinderstimmen.
Es kam der Augenblick, wo Josef auftrat und Maria behutsam vor die Herberge führte. Josef pochte laut an die Holztür, die man in die gemalte Kulisse eingesetzt hatte. Walter als Wirt stand dahinter und wartete. ?Was wollt ihr?g, fragte er barsch und stieß die Tür heftig auf.
?Wir suchen Unterkunft.g
?Sucht sie anderswo!g Walter blickte starr geradeaus, sprach aber mit kräftiger Stimme. ?Die Herberge ist voll!g
?Herr, wir haben überall vergeblich gefragt. Wir kommen von weit her und sind sehr erschöpft.g
?In dieser Herberge gibt es keinen Platz für euch!g Walter blickte streng.
?Bitte, lieber Wirt, das hier ist meine Frau Maria. Sie ist schwanger und braucht einen Platz zum Ausruhen. Ihr habt doch sicher ein Eckchen für sie. Sie ist so müde ...g
Jetzt lockerte der kleine Wirt zum ersten Mal seine starre Haltung und schaute auf Maria. Dann folgte eine lange Pause, so lange, dass es für die Zuhörer schon ein bisschen peinlich wurde.
?Nein! Schert euch fort!g, flüsterte der Souffleur aus der Kulisse.
?Nein!g, wiederholte Walter automatisch. ?Schert euch fort!g
Traurig legte Josef den Arm um Maria, und Maria lehnte den Kopf an die Schulter ihres Mannes. So wollten sie ihren Weg fortsetzen.
Aber der Wirt ging nicht wieder in seine Herberge zurück. Walter blieb auf der Schwelle stehen und blickte dem verlassenen Paar nach - mit offenem Mund, die Stirn sorgenvoll gefurcht, und man sah deutlich, dass ihm Tränen in die Augen traten.
Und plötzlich wurde dieses Krippenspiel anders als alle bisherigen. ?Bleib hier, Josef!g, rief Walter. ?Bring Maria wieder her!g Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. ?Ihr könnt mein Zimmer haben!g
Manche Leute meinten, Walter habe das Spiel verdorben. Aber viele, viele andere hielten es für das weihnachtlichste aller Krippenspiele, die sie je gesehen hatten.