Mit Aloys Jousten
Zu den Dingen, die mir in der belgischen Gesellschaft und insbesondere im Zusammenleben der Bürger Sorge bereiten, gehört der Begriff Toleranz.
Belgien ist im Vergleich zu Nachbarländern etwas anders als seine Nachbarn. Das geht mir besonders bei Auslandsreisen immer auf. Im Ausland spricht man uns wegen der Sprachenvielfalt und mehr noch wegen der Spannungen zwischen Wallonen und Flamen an. In Wirklichkeit ist das Zusammenleben in drei offiziell anerkannten Sprachgemeinschaften nur ein Teil der Vielfalt und der Verschiedenheit innerhalb der Bevölkerung unseres Landes.
Mich trifft immer wieder, wie man in Belgien mit der Verschiedenheit in den Weltanschauungen und Religionen umgeht. Da geht es ab und zu sehr aggressiv zu. Ich nenne ein Beispiel: das Nebeneinander von Muslimen und Katholiken.
Bedeutet Toleranz, dass jeder tun und lassen kann, was er will? Genügt eine friedliche Koexistenz, also das konfliktfreie Nebeneinander? Meines Erachtens würde eine solche Haltung über kurz oder lang zu Gleichgültigkeit und eventuell zu einem spannungsgeladenen Nebeneinander führen. In der Tat kann aus einer anfänglichen Gleichgültigkeit eines Tages heftige Opposition werden. Dabei werden nicht die unterschiedlichen Meinungen, wohl aber die andersartigen Verhaltensweisen für Konfliktstoff sorgen. Es genügt wohl, an die möglichen Spannungen zwischen heranwachsenden Kindern und ihren Eltern zu denken. Kleidung, Ausgehen, Konsum können für Eltern unerträglich oder untragbar werden, so dass Toleranz an Grenzen stößt. Außerhalb der Familie gibt es noch viele andere Reibungsflächen, wo Toleranz eingeübt werden könnte und sollte.
So würde ich mir wünschen, dass junge Leute verschiedener Religionen in den Schulen, in den Vereinen, in der Freizeit den Kontakt, die Begegnung miteinander suchten und miteinander ins Gespräch kämen. In meinen Augen bedeutet Toleranz dann nicht, dass jeder den anderen einfach leben und denken lässt, wie es ihm passt. Toleranz sollte meines Erachtens einerseits Achtung, Respekt des anderen bedeuten, aber auch Offenheit für ihn, indem ich frage, was ich von ihm lernen kann, was er mir zu geben hat. Der Andersdenkende und Andersgläubige kann mich in meinem Denken und Glauben wachrütteln.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen die empfangsbereite und erwartungsvolle Begegnung mit anderen.