„Wen seht ihr?“
Das Wort in den Tag schenkt ihnen heute Claude Theiss.
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
Heute warte ich mit einem besonderen Wort in den Tag auf, dass ich allen widme, die direkt oder indirekt mit Menschen leben und in Berührung kommen, die an Demenz oder Altzheimer leiden. Ich fand folgenden Text von unbekannter Quelle und habe ihn ein wenig erweitert.
Was seht Ihr, meine Lieben!
Denkt ihr, wenn ihr mich anschaut:
eine alte Frau, verunsichert in ihren Gewohnheiten, mit abwesendem Blick, die ständig beim Essen kleckert, die nicht immer antwortet, wenn ihr sie ansprecht.
Die nicht so aussieht als würde sie merken, was ihr macht und ständig den Stock fallen lässt
und die willenlos alles mit sich machen lässt: füttern, waschen und alles, was dazu gehört.
Denkt ihr denn so von mir, wenn ihr mich anschaut?
Öffnet die Augen, schaut mich genauer an!
Ich werde euch erzählen, wer ich bin, die hier so still sitzt, die macht, was ihr möchtet und isst und trinkt, wann es euch gefällt.
Ich bin ein zehnjähriges Kind mit einem Vater und einer Mutter, die mich lieben und meine
Schwestern und Brüder.
Ein achtzehnjähriges Mädchen, schlank und hübsch, die davon träumt, bald einen Mann zu
begegnen.
Eine Braut, so um die zwanzig, mein Herz schlägt heftig beim Gedanken an die Versprechungen, die ich gegeben und gehalten habe.
Mit fünfundzwanzig noch, habe ich eigene Kleine, die mich zu Hause brauchen.
Eine Frau mit dreißig, meine Kinder wachsen schnell und helfen einander.
Mit gut vierzig werden alle erwachsen und ziehen aus.
Mein Mann ist noch da, und die Freude ist nicht zu Ende.
Nach Jahren kommen die Enkelkinder und sie erfüllen unsere Tage.
Dunkle Tage kommen über mich, mein Mann ist tot.
Ich gehe in eine Zukunft voller Einsamkeit und Not.
Aber die Erinnerungen von Jahren und die Liebe bleiben mein.
Die Natur ist grausam, wenn man alt und krumm ist, und man wirkt oft etwas verrückt.
Nun bin ich eine alte Frau, die ihre Kräfte dahinsiechen sieht und der Charme verschwindet.
Aber in diesem alten Körper wohnt immer noch ein junges Mädchen.
Ich erinnere mich an meine Freuden, ich erinnere mich an meine Schmerzen
und ich liebe und lebe mein Leben noch einmal, das allzu schnell an mir vorüber geflogen ist
und akzeptiere kühle Fakten, dass nichts bestehen kann.
Wenn ihr eure Augen aufmacht, dann seht ihr nicht nur eine alte Frau.
Kommt näher und seht MICH.
Auf Wiederhören!