Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
Die letzten Kirchenbesucher verlassen die Lütticher Kathedrale. Die großen Portale werden geschlossen. Petrus und Paulus, die beiden Apostelfürsten, die wir heute feiern, fühlen sich auf ihren Säulen endlich unbeobachtet und beginnen ein interessantes Gespräch. Belauschen wir sie dabei:
„Halt dich fest, Paulus, damit du nicht von deiner Konsole fällst! Morgen früh gebe ich meinen Schlüssel zurück. Vielleicht kann ich mit diesem Schritt den Kräften entgegenwirken, die die Kirche in eine „Wach- und Schließgesellschaft“ verwandeln möchten; die aus Angst so viele Türen verschließen und jede Erneuerung verhindern.“
„Du wirst dich wundern, Petrus, auch ich trage mich mit dem Gedanken, mein Schwert zurückzugeben. Zu oft wurden Völker mit dem Schwert zum christlichen Glauben bekehrt. Ich wünsche mir eine Kirche, die dient, und nicht eine, die herrscht und droht. Deshalb werde ich mich dir anschließen. Vielleicht versteht man unseren stummen Protest, wenn wir morgen ohne Schlüssel und Schwert dastehen.“
Da schaltet sich der Heilige Georg ins Gespräch ein: „Überleg dir das gut, Paulus! Behalte dein Schwert und zeige den Leuten, dass Glaube kein harmloses Lippenbekenntnis ist, sondern Konsequenzen haben kann. Behalte dein Schwert und zeige den Leuten, dass zum Christsein auch klare und eindeutige Worte gehören, wo Missstände aufgedeckt werden müssen.“
Jetzt meldet sich auch Maria zu Wort und wendet sich an Petrus: „Was Georg deinem Nachbarn Paulus geraten hat, das rate ich auch dir: Gib deinen Schlüssel nicht aus der Hand! Zeige der Kirche, dass sie dazu da ist, den Suchenden und Fragenden einen Schlüssel zu einem erfüllten und sinnvollen Leben anzubieten.
Als am Morgen der Küster die Portale wieder öffnet, verstummt das nächtliche Gespräch in der Kathedrale. Die beiden stehen unverändert auf ihren Konsolen und hoffen, dass möglichst viele Besucher sich durch Schwert und Schlüssel zu einem eindeutigen und aufgeschlossenen Christsein anregen lassen.
(Ideen aus Wolfgang Raible, 100 Kurzansprachen, Herder, 2009)